Philosophie: Die antiken Wurzeln mittelalterlichen Denkens

Philosophie: Die antiken Wurzeln mittelalterlichen Denkens
Philosophie: Die antiken Wurzeln mittelalterlichen Denkens
 
Wenn Thomas von Aquino (✝ 1274), der berühmte Dominikanerphilosoph und -theologe, von »dem« Philosophen schreibt, ist immer Aristoteles gemeint. Der heutige Leser könnte den Eindruck gewinnen, dass Aristoteles zu den traditionellen Lehrmeistern gehörte. Dies aber war zunächst keineswegs so. Bis ins 13. Jahrhundert hinein war er im Abendland kaum bekannt, und Philosophie und Theologie stützten sich seit dem Ausgang des Altertums vor allem auf die Schriften Platons, auf den spätantiken Neuplatonismus und seine christlichen Varianten; hier sind besonders Augustinus - der christliche Platonismus des Mittelalters wird oft auch einfach als »Augustinismus« bezeichnet - und ein namentlich nicht bekannter, unter dem Pseudonym des Paulusschülers Dionysius schreibender Autor (um 500) zu nennen.
 
Das platonische Denken wurde in drei großen und unterschiedlichen Traditionen weitergegeben. Einmal gab es einen humanistischen Bildungsstrom, in dem ein schöngeistiges edles Menschsein gepflegt wurde, das zu manchen asketischen und dogmatischen Richtungen der damaligen Zeit in Kontrast stand. Als zweites wurden naturphilosophische und naturwissenschaftliche Anstöße des antiken Platonismus und des Neuplatonismus weitergegeben und immer neu erörtert: zu anatomisch-physiologischen Fragen, zur Physik, Mathematik, Optik, Zoologie und Botanik. In diesem Kontext wurden drei Vorstellungsreihen ausgebildet, die das mittelalterliche Denken prägten: Die Natur wurde als ein Strom einer lebendigen, sich entfaltenden Kraft angesehen, wozu sicher auch Motive der keltischen Tradition beitrugen; eine Art von »Lichtmetaphysik« öffnete den Blick für die Schönheit des Kosmos, der von Licht, Form und Schönheit durchwaltet ist; schließlich war man überzeugt von einer den ganzen Kosmos prägenden Harmonie, woraus sich später der Gedanke einer Naturgesetzlichkeit entwickelte, die allen Erscheinungen der Natur zugrunde liegt.
 
Noch wichtiger wurde - als drittes - die Prägung von Philosophie und Theologie durch platonisch-neuplatonische Vorstellungen: Die eigentliche Wirklichkeit ist die geistige »Welt der Ideen«, die in der sichtbaren Realität nur schattenhaft widergespiegelt ist. Alles Sein im sichtbaren Kosmos hat lediglich einen größeren oder kleineren Anteil (griechisch »Methexis«, lateinisch »Participatio«) an der idealen Wirklichkeit und ist dementsprechend gestuft: von bloß materiellen Dingen über Pflanzen und Tiere zu den beseelten Menschen und zu den Engeln. Mit dieser Seinshierarchie je nach der Nähe zu den Ideen ist auch eine ethische Dimension verbunden: Geistiges Sein und Leben rangieren weit über bloß triebhafter und körperlicher Existenz.
 
Weil die eigentliche Wahrheit jenseits der sichtbaren Welt zu suchen ist, richtet sich auch der Blick »nach oben«, von wo die wichtigsten Erkenntnisse »deduktiv« abgeleitet werden. Durch »Erinnerung« an diesen Bereich, die wir aus einer geistigen Existenz vor unserer Geburt haben, können wir nach Platon die tiefsten Zusammenhänge erkennen. Augustinus hatte diese Vorstellung christlich gewendet und lehrte, dass umfassende Kenntnis nur durch gnadenhafte Erleuchtung seitens Gottes, durch Illumination, geschieht; Irrtum ist somit - eine verhängnisvolle Mitgift für das Mittelalter - zugleich schuldhafte Zurückweisung der Gnade (und kann bestraft werden).
 
Die Werke des Aristoteles waren dem frühen christlichen Mittelalter kaum bekannt. Dagegen wurden seine Schriften in der anderen großen Kultur, im Islam, gelesen und immer neu interpretiert; hier galten bald acht Werke des »ersten Lehrers« als quasi-kanonisch. Das christliche Europa lernte somit Aristoteles über Spanien durch die Vermittlung muslimischer und jüdischer Tradition kennen; dies kann manche Schwierigkeit erklären, die einer Annahme des Aristoteles entgegenstanden, wie es auch ein Zeichen für den Mut der christlichen Theologen ist, die seine Lehren propagierten: Thomas von Aquino und schon sein Lehrer Albertus Magnus (✝ 1280).
 
In der Antike war zwischen Platon und seinem Schüler Aristoteles niemals ein grundlegender Unterschied empfunden worden. Anders jetzt im 13. Jahrhundert; das Denken des Aristoteles schien Bisheriges umzukehren. Wichtig wurde vor allem die Lehre des Aristoteles, dass alles Seiende zusammengesetzt ist aus Materie und Form, also eine ideale Bestimmtheit ist. Das menschliche Erkennen konnte sich somit auf die sichtbaren Dinge selbst richten und in ihnen durch Abstraktion deren Wesen erkennen und in Allgemeinbegriffen wiedergeben. Erkenntnis wurde also nicht mehr »von oben«, von jenseits der Welt, hergeleitet; das Denken sollte sich der sichtbaren Welt selbst zuwenden und in ihr - »induktiv« - Wahrheit aufspüren; diese »conversio ad phantasma« (Hinwendung zur Erscheinungswelt) führte allmählich zum Prinzip der Beobachtung der natürlichen Phänomene und so zur Entstehung der Naturwissenschaften. Die Welt jenseits des Sichtbaren, die metaphysische Wirklichkeit, ist nach Thomas somit nicht mehr selbst Gegenstand unserer Erkenntnis, sondern nur durch Schlussfolgerung aus den Erkenntnissen, die unsere Welt uns bietet, zu erschließen. Menschliches Erkennen ist auch keineswegs bloß rezeptiv - ein passives Geprägtwerden -, sondern höchste Aktivität: Allein durch den »tätigen Verstand« können die Wesenheiten der Seienden mittels der Abstraktion aus ihnen herausgelöst werden; Denken ist schöpferische, »subjektive« Tätigkeit - die kritische Wende der Neuzeit kündigte sich an.
 
Prof. Dr. Karl-Heinz Ohlig
 
 
Flasch, Kurt: Einführung in die Philosophie des Mittelalters. Darmstadt 31994.
 Lindberg, David C.: Von Babylon bis Bestiarium. Die Anfänge des abendländischen Wissens. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart u. a. 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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